Hochgeschwindigkeitszüge führen Veränderungen bei Demografie, Entwicklung und Lebensweise herbei.
Im Jahre 1978 wurde die 373 Kilometer lange Nordsüd-Autobahn in Taiwan dem Verkehr übergeben. Die erste Staatsautobahn trug zur Gestaltung der drei größten städtischen Verdichtungsräume der Insel bei -- Taipeh im Norden, Taichung in der Mitte der westlichen Küstenebene und Kaohsiung im Süden. Die Autobahn brachte die sich schnell urbanisierenden Regionen zusammen, deren Entwicklung in den sechziger Jahren begann und die zum Teil durch eine wachsende Zahl von Straßen und Eisenbahnstrecken gebildet wurden, welche die blühenden ländlichen Ortschaften und Dörfer an den großen städtischen Verbund anschlossen. Nun fördert die neue Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn eine weitere wichtige Umgestaltung von Lebensräumen im westlichen Taiwan. "Dieser Verkehrs-Meilenstein vereinigt Taiwan zu einer einzigen großen Metropole", prophezeit Chen Chien-fu, Direktor des Graduierteninstituts für Zukunftsstudien an der Tamkang University im Landkreis Taipeh. "Trotz aller Kontroversen über dieses riesige Bauprojekt haucht es Taiwans Zukunft neues Leben und Chancen ein."
Schiene schlägt Straße
Mit seinen Ursprüngen im Entwerfen militärischer Strategien konzentriert sich das Fach Zukunftsstudien auf die Gestaltung von Visionen für die Zukunft. Diese Visionen oder Vorhersagen beruhen auf den ökonomischen, ökologischen und politischen Studien, der Soziologie und Technologie einer sich wandelnden Gesellschaft. "Das Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem ist das Herzstück technologischer, wirtschaftlicher und kultureller Kräfte, die bei allen vernünftigen Visionen über Taiwans Zukunft im Mittelpunkt stehen", versichert Chen. So wie der Aufstieg von Taiwans Wirtschaft Ende der siebziger Jahre oft der Vollendung des ersten nationalen Autobahnsystems zugeschrieben wurde, so könnte die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn ein weiteres Stadium gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung einleiten.
Nach Chens Ansicht hätte die Verbindung zwischen Taipeh und Kaohsiung mit dem Hochgeschwindigkeitszug, welcher die Reisezeit mit konventioneller Eisenbahn von vier Stunden auf weniger als zwei Stunden verringert, früher aufgebaut werden sollen, um den erwarteten Paradigmenwechsel im Transportgewerbe zu fördern. "Wegen der hohen Personalkosten, schwerer Unfälle und anderer Dinge begann das System der Eisenbahnverwaltung Taiwan (Taiwan Railway Administration, TRA) schon vor langer Zeit in den Hintergrund gedrängt zu werden", berichtet er. Im breiteren Zusammenhang der Verkehrsinfrastruktur hat Taiwan viel größere Anstrengungen im Autobahnbereich als bei den Eisenbahndienstleistungen unternommen. Nun erstreckt sich das Straßennetz des Landes über mehr als 39 000 Kilometer, ein starker Gegensatz zu den 1100 Schienenkilometern (die 345 Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht mitgerechnet) des rund um die Insel führenden TRA-Netzes.
Während die Schnellbahnsysteme (Mass Rapid Transit, MRT) in Taipeh und Kaohsiung -- das in Taipeh ist bereits seit Jahren in Betrieb, das in Kaohsiung soll Ende 2008 fertig gestellt werden -- die Balance zwischen der Straße-Schiene-Rate positiv beeinflussen, gibt es außerhalb dieser beiden größten Städte Taiwans keine entsprechenden Systeme. Das im Januar dieses Jahres eingeweihte Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem ist ein Versuch, das Ungleichgewicht im landesweiten Maßstab anzugehen. Nutzbares Land ist in Taiwan rar, und die Bevölkerungsdichte macht Massenverkehrsmittel zwingend erforderlich, deswegen nähert sich das Straßensystem den Grenzen seiner Kapazität. Aus diesem Grund ist die Eisenbahn, zu deren Entwicklung man etwa so viel Land braucht wie für Straßen, die aber eine größere Kapazität verkraften können, die richtige Antwort. Zur Zeit werden neue MRT-Systeme, darunter Straßenbahnnetze in größeren Städten wie Taoyuan, Hsinchu, Taichung, Chiayi und Tainan, gebaut oder geplant, um die Bahnhöfe der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn an die Stadtzentren anzuschließen.
Wunschdenken
Chen denkt, dass die zentraltaiwanische Stadt Taichung ein perfektes Beispiel für die Darstellung der höheren Kapazität der Schiene ist. "Taichung muss so schnell wie möglich sein eigenes MRT-System bauen und mit dem Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem verbinden, um auf diese Weise den Weg für eine mögliche Verlegung der Hauptstadt von Taipeh nach Taichung zu ebnen", schnarrt er. "Dann könnte eine ausreichend wohlhabende Stadt wiederum die wesentliche Rolle des Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystems bei der nationalen Entwicklung bestätigen." Mit dem Superschnellzug braucht man von Taichung aus sowohl nach Taipeh im Norden als auch nach Kaohsiung im Süden weniger als eine Stunde. Der Experte für Zukunftsstudien weist darauf hin, dass eine solche Bequemlichkeit beim Verkehr nicht nur der zukünftigen regionalen Entwicklung in Taichung Schwung geben würde, sondern auch gut fürs Geschäft der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn wäre.
Nach der Überzeugung von Chen Lee-in, Forscherin am Chung-Hua-Institut für Wirtschaftsforschung, hat das Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem zwar ein großes Potenzial, für eine entstehende Eintags-Pendelroute zum Trendset ter zu werden, doch muss es ein zuverlässiges und dauerhaftes Geschäftsmodell aufbauen. Heute sind die beiden Haupt-Benutzergruppen der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn Geschäftsreisende und Urlauber. Mit anderen Worten, sie stammen überwiegend aus den vergleichsweise privilegierten Gruppen, die über Geld oder Freizeit verfügen. "Die THSRC könnte versuchen, Pendler durch die Senkung der Tarife anzulocken, um regelmäßige Benutzung zu steigern", empfiehlt Chen Lee-in. Hoffentlich würde eine zentrale Region mit wachsendem politischen und wirtschaftlichen Einfluss, die größtenteils von zukünftiger urbaner Entwicklung in Taichung abhängig wäre, zur Entwicklung der Pendlerrolle des Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystems auf der Grundlage der bequemen Fahrtzeit von 40 bis 60 Minuten von Taichung nach Taipeh oder Kaohsiung beitragen.
Gemäß den Plänen der Regierung für neue Städte wird die Gegend um Taichungs Hochgeschwindigkeits-Bahnhof in der Gemeinde Wurih (Landkreis Taichung) zu einem Zentrum für Shopping und Unterhaltung entwickelt, während vier andere Zonen in der Umgebung größerer Bahnhöfe Rollen im Bereich Wirtschaft und Handel zugewiesen bekommen, etwa durch die internationalen Handelsmessen in Taoyuan und die biomedizinische Technologie in Hsinchu. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Entwicklung neuer Städte im Jahre 1997 wurden nur zwei größere neue Städte in Kaohsiung und im Gebiet Danshuei (Landkreis Taipeh) entwickelt. "Diese beiden Projekte waren nicht sehr erfolgreich", moniert Chen Lee-in. "Ich hoffe, dass der neue Verkehrsfaktor und eine feinere staatliche Planung wirklich moderne Visionen neuer Städte entlang der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnroute schaffen werden."

Die Hightech-Schnellzüge der THSRC sind selbst eine große Touristenattraktion geworden. (Foto: Chang Su-ching)
Neue Konzepte
Während der Zeit der rasanten urbanen Expansion und industriellen Entwicklung in den sechziger und siebziger Jahren wurden Erwägungen für den Bau angenehmer Stadtlandschaften in Taiwan durch die überwältigende Immobiliennachfrage überrollt. Chen Lee-in regt an, entlang der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecken architektonische Stile mit regionalen Merkmalen zu pflegen, welche größere ethnische oder wirtschaftliche Ansammlungen wie Gebäudestile der Hakka oder Ureinwohner oder die Glasdesigns in Hsinchu und Miaoli widerspiegeln. "Die vierte Hochgeschwindigkeitszug-Linie der Welt verdient ein besser gebautes Umfeld", fordert sie. "Ihr Betrieb hat die Vorstellungen der Menschen von Raum verändert, und er könnte auch das wirkliche Aussehen von Taiwans Landschaft wandeln."
Sie macht darauf aufmerksam, dass die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn als Symbol für ein neues Zeitalter eine posi tive Rolle dabei spielen kann, die Sehnsucht der Menschen nach größerem ästhetischen Vergnügen und alltäglichem Wohlbefinden allgemein zu befriedigen. Nach den Worten von Chen Chien-fu erwecken die schnellen, sicheren und bequemen Superschnellzüge ein Glücksgefühl in den Taiwanern, besonders bei denen, die in Zentral- und Südtaiwan auf dem Land leben. Er war sehr beeindruckt von dem fünfmillionsten Passagier der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn, einem über siebzig Jahre alten Inhaber ermäßigter Fahrkarten, der vom zentraltaiwanischen Landkreis Changhua für einen Tagesausflug nach Taipeh fuhr. "Die Erfahrung, atemberaubende Wahrzeichen wie großartige Museen und den 'Taipei 101'-Wolkenkratzer sehen zu können, kann man so mit Nachbarn und Freunden teilen", wirbt Chen Chien-fu. "Das ist für Leute auf dem Land nun eher möglich, eben wie für jenen glücklichen älteren Mitbürger. Zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten ist zumindest die geistige Entfernung jetzt stark verringert."
Außerdem kann die Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug schon direkt nach dem Einsteigen ein Vergnügen sein. "Als Hightech-Leistung ist das Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem nicht nur ein Transportmittel, sondern auch in sich selbst eine große Touristenattraktion", findet Roget Hsu, Generalsekretär des Reisebüroverbandes der Republik China, Taiwan. "Die Zufriedenheit eines Touristen beruht in großem Maße auf der Erwartung gut kontrollierten und reibungslosen Verkehrs." Japaner, die zahlenmäßig stärkste Gruppe ausländischer Touristen in Taiwan, haben einen weiteren Grund, sich über die Züge zu freuen -- sie sind der erste Export von Japans eigenem Superschnellzug, dem Shinkansen. "Jetzt reisen mehr japanische Touristen zwischen Taipeh und Kaohsiung", bemerkt Hsu. "In der Vergangenheit blieben sie meistens nur in Nordtaiwan." Laut Chen Chien-fu ist wegen der neuen Bequemlichkeit beim Reisen nun auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass sein Institut ausländische Forscher, die sich zu Besuch in Taiwan aufhalten, in südtaiwanische Städte einlädt.
Größere Bequemlichkeit
Laut Hsu ist Bequemlichkeit immer ein maßgeblicher Faktor bei Fremdenverkehr, und die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn wird bei neuen Pauschalreisen sicherlich eine große Rolle spielen. Beispielsweise gibt es nun mehr Tagesausflüge, gleichzeitig geht die Nachfrage nach Hotelübernachtungen zurück. Nach Hsus Angaben geschah das Gleiche im Großraum Taipeh nach der Vollendung der 54,3 Kilometer langen Chiang Wei-shui-Gedächtnisautobahn, die 2006 zwischen Taipeh und Ilan an Taiwans Ostküste in Betrieb genommen wurde. Für das riesige öffentliche Bauprojekt benötigte man fast zwei Jahrzehnte zur Vollendung, sein spektakulärster Abschnitt ist der 12,9 Kilometer lange Straßentunnel durch die Schneeberge. Die neue Autobahn verringert die Fahrzeit zwischen Taipeh und dem Ilan-Gebiet auf weniger als eine Stunde. Vorher brauchte man über zwei Stunden auf gewundenen Straßen entlang der Küste oder durch das Gebirge. Mittlerweile entwickelt sich die ehemals abgelegene und schwer erreichbare Stadt Ilan zur "Schlafstadt" der Hauptstadt. Viele Einwohner von Ilan erwarten ein größeres Geschäftspotenzial für den lokalen Landwirtschaftstourismus.
Mit der neuen Ära bequemen Verkehrs, der neuen Geschäftsgelegenheiten den Weg ebnet, bemühen sich einzelne Regionen darum, sich zu entwickeln und einen Vorsprung durch Wettbewerbsfähigkeit und Profil zu bewahren. "In der Vergangenheit konnte ein Ort bestenfalls Menschen aus Nachbarregionen anlocken, etwa mit hervorragenden Wirtschaftsbedingungen oder lokalen Festen", sinniert Chen Lee-in. "Heute können sie jedoch Leute aus dem ganzen Land erwarten, und diejenigen, die bei der Ausnutzung dieses Besucheraufkommens zu langsam sind, werden untergehen."
Wu Rong-i(吳榮義), Präsident des Aktienmarktes Taiwan und von 2005 bis 2006 Vizepremier, macht in einer Publikation der Regierung der jüngsten Zeit darauf aufmerksam, dass die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn eine Neuverteilung der regionalen Ressourcen und neuen Wettbewerb zwischen lokalem Flair und Stärken der einzelnen Gegenden mit sich bringt. Wu war während seiner Amtszeit als Vizepremier ein Jahr lang für die Verwaltung der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn zuständig.
Es wird noch viel darüber diskutiert, ob das Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsystem die regionale Entwicklung verbessern oder den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteil der Hauptstadt über die Regionen weiter zementieren wird. Wu tritt für regionales Wachstum ein. Er verweist auf eine Studie der jüngsten Zeit, durchgeführt von einer größeren taiwanischen Arbeitsvermittlungsagentur, derzufolge die größten Zahlen von Jobgelegenheiten dieses Jahr in Kaohsiung, Taoyuan und Tainan verzeichnet wurden, während die nächsten drei Städte auf der Liste (Hsinchu, Taichung und Taipeh) gleichfalls ans Hochgeschwindigkeits-Zugsystem angeschlossen sind. Der Wirtschaftswissenschaftler betont, dass Arbeitskräfte in wissens -intensiven Branchen und öffentliche Investitionen sich weiter in den an den Superschnellzug angeschlossenen Regionen ansammeln, gleichzeitig würden neue Wirtschaftsmodelle allmählich Gestalt annehmen.
Chen Lee-in hat wegen der Errungenschaften, die bis dato dank der Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn erreicht wurden, gleichfalls eine sonnigere Vision über ihre Zukunft. "Diesem riesigen Projekt ist es schließlich gelungen, die Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnsysteme Japans und Europas zu vereinigen", behauptet sie. "Es ist das einzige System der Welt, wo das geglückt ist."
(Deutsch von Tilman Aretz)